Wenn heute von Todesopfern rechter Gewalt in Deutschland gesprochen wird, bezieht man sich gemeinhin auf einen Zeitraum, der 1990 beginnt, also mit der Wiedervereinigung.
Dabei gibt es bis heute kontroverse Diskussionen zwischen staatlichen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Akteur_innen um die Anzahl der Opfer.

Die Bundesregierung zählt als Todesopfer rechter Gewalt die Fälle, die den von ihr anerkannten Kriterien für die Erfassung von politisch motivierten Straftaten entsprechen. Dagegen erkennen Organisationen aus der Zivilgesellschaft, beispielsweise Opferberatungsstellen, alle Fälle an, in denen die Täter_innen einer rechten Ideologie angehören und in denen eine Motivation in der Tat wiederkennbar ist, die einem rechten Weltbild zugeordnet werden kann – unabhängig davon, ob die Täter_innen sich selbst als „Rechte“ verstehen und als solche zu erkennen geben. Die Betrachtung geht also von den Betroffenen aus und von der Gewalt, die sie erfahren mussten.

Die Diskrepanz in der Herangehensweise erklärt, warum die Bundesregierung bis heute nur 63 Todesopfer rechter Gewalt im gesamten Bundesgebiet zählt, während zum Beispiel die Amadeu Antonio Stiftung, Journalist_innen von „Tagesspiegel“ und „Zeit“ sowie Opferberatungsstellen von 184 Todesopfern rechter Gewalt ausgehen und auch weitere Fälle unter Verdacht stellen, politisch motiviert gewesen zu sein.

Der Definitionsrahmen für „Politisch motivierte Kriminalität – rechts“ (PMK-rechts), also die Grundlage für eine staatliche Anerkennung, wurde im Jahr 2001 durch Impulse aus der Zivilgesellschaft überarbeitet. Nun sind auch Gewaltdelikte eingeschlossen, die eine Person wegen ihrer Herkunft, Religion, Sprache, sexuellen Orientierung oder Wohnungslosigkeit erfährt. Im Zuge dessen erkannte die Bundesregierung nachträglich Fälle an – gleichwohl besteht bis heute eine große Diskrepanz und Diskussion.

Im Folgenden porträtieren wir die Todesopfer rechter Gewalt in Thüringen. Dabei ist mit Ausnahme von Karl Sidon (15. Januar 1993) kein einziger Fall in der Statistik PMK-rechts geführt, also keiner von ihnen staatlich anerkannt.

Unsere Ausstellung, die sich auf die Betroffenen in Thüringen konzentriert, erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr gehen wir sowohl für Thüringen als auch für die gesamte Bundesrepublik von einer hohen Dunkelziffer aus, insbesondere bei Morden an Obdachlosen.

Anerkennungsdebatte und Aufarbeitung

Im Kontext der Aufdeckung des rechtsextremen Terrors durch den „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) entbrannte auch eine Diskussion um die Anerkennung der Betroffenenperspektive und um die Aufarbeitung der Todesopfer rechter Gewalt. Der Verein „Opferperspektive hat dazu wichtige Gedanken zusammengefasst:

„‚ Die Ungewissheit ist schwer auszuhalten, denn sie überschattet alles. Sie macht es unmöglich, sich auf die Trauer und den Schmerz einzulassen und ein unbelastetes Andenken an den Gestorbenen zu bewahren. Ohne Antwort kommen die Gedanken nie zur Ruhe.‘

Semiya Şimşek, Tochter von Evren Şimşek, dem ersten Mordopfer des NSU

Die Frage nach dem Motiv, aus dem heraus ein Mensch ermordet oder tödlich verletzt wurde, ist nicht nur für die Angehörigen von zentraler Bedeutung. Das Motiv ist entscheidend für die juristische, moralische und damit die gesellschaftspolitische Bewertung einer Tat. Die Gründe dafür, dass rechte Tatmotive häufig nicht erkannt oder in Gerichtsverfahren unterbewertet wurden (und immer noch werden), sind vielfältig. Oft werden gleich zu Anfang Beweise nicht aufgenommen, weil den ermittelnden Beamten der Blick für ein mögliches politisches Motiv fehlt.

Das behindert die Gerichte und hat außerdem zur Folge, dass in der Statistik ‚Politisch motivierte Kriminalitätsrechts‘ (PMK), welche die öffentliche Wahrnehmung prägt, nur ein Bruchteil der rechten Straf- und Gewalttaten auftaucht. Gerichtsurteile, die eine Tat anders einordnen, als die ermittelnden Beamten, finden nachträglich fast nie Eingang in die Statistik. Aber auch RichterInnen fehlt häufig das Wissen über die rechte Szene. Insbesondere sozialdarwinistische Motive oder Taten von rassistischen GelegenheitstäterInnen werden selten als politisch erkannt. In den 1990er Jahren, in denen es die meisten Todesopfer gab, war dieser Mangel gravierend. Aber auch noch heute gilt, der politische Charakter einer Tat wird oft nicht wahrgenommen:

• wenn die TäterInnen keine organisierten Neonazis sind,
• wenn die Opfer nicht offensichtlich zu einer der ‚üblichen‘ Opfergruppen gehören,
• wenn die Umstände komplexer sind, zum Beispiel der Gewalt ein Streit vorausgegangen ist oder
zunächst zusammen getrunken wurde. (Es ist offenbar schwer vorstellbar, dass jemand erst mit einem Wohnungslosen zusammen zecht und ihn anschließend aus Hass auf ‚Asoziale‘ zu Tode prügelt.),
wenn Täter schnell ein Geständnis ablegen oder Motive wie Raub vordergründig und einfach nachzuweisen sind, beschäftigen sich Polizei und Gerichte nicht mehr mit den Gründen für die Auswahl des Opfers. Auch dadurch werden z.B. Rassismus und andere politische Motive nicht erfasst.

Schon lange wird von verschiedenen Seiten gefordert, dass die Einschätzung der Betroffenen – bzw. bei Tötungsdelikten die der Angehörigen – bei den Ermittlungen berücksichtigt werden muss. Polizei und Gerichte spiegeln den Stand der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit rechter Gewalt wieder und wirken gleichzeitig richtungsweisend auf sie ein. Die nachträgliche Anerkennung der Todesopfer rechter Gewalt durch staatliche Stellen ist deshalb ein wichtiges gesellschaftspolitisches Signal. Es geht darum, das wahre Ausmaß rechter Gewalt offiziell anzuerkennen, und dem Bedürfnis der Angehörigen der Opfer nach Aufklärung gerecht zu werden.“1

Im Mai 2013 startete das Moses Mendelssohn Zentrum der Universität Potsdam ein Forschungsprojekt zur Überprüfung „umstrittener Altfälle Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt mit dem Ziel, „die Diskrepanz zwischen den staatlich anerkannten und den öffentlich bekannt gewordenen Todesfällen zu erklären und daraus Erkenntnisse für zukünftige Ermittlungen abzuleiten“.2 Insgesamt hat das Zentrum 24 strittige Todesfälle in Brandenburg aus der Zeit zwischen 1990 und 2011 nachträglich untersucht.

Die Ergebnisse dieses Projekts wurden am 29. Juni 2015 vorgelegt. Die an diesem Projekt mitwirkenden Experten kamen zu dem Schluss, dass von den 24 geprüften Fällen 9 ein rechtsextremes oder rassistisches Motiv aufwiesen, das während der Ermittlungen und des Gerichtsverfahrens keine Berücksichtigung gefunden hatte. In Folge musste der Innenminister des Bundeslandes die Statistik von ‚rechtsgerichteten politisch motivierten‘ Mordfällen in Brandenburg von 9 auf 18 erhöhen3

Wünschenswert ist eine solche effektive Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Staat auf bundesweiter Ebene. Damit würde einerseits die Perspektive der Betroffenen adäquat und öffentlich anerkannt. Andererseits könnte so verhindert werden, was auch die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Petra Pau, befürchtet – dass „die Statistik der Bundesregierung die rechtsextreme Gefahr beschönigt. 4

Die Opferberatung ezra drängt dementsprechend auf eine staatliche Anerkennung der Todesopfer und des Gefahrenpotenzials rechter Gewalt. Gleichzeitig fordert die Beratungsstelle ein würdiges Gedenken für alle Todesopfer rechter Gewalt und setzt dabei auch auf zivilgesellschaftliche Initiativen, die diese Fälle immer wieder zum Thema öffentlicher Diskussion oder von Gedenkinitiativen machen.

Hinweis auf andere Initiativen

Ausstellung „Opfer rechter Gewalt seit 1990“: http://www.opfer-rechter-gewalt.de/

Online-Projekt „re:guben“: http://www.re-guben.de/

Video: „Du weißt schon, wie in Rostock …“ – ein Beitrag gegen das Vergessen rechter und rassistischer Gewalt von Miteinander e.V.: https://vimeo.com/93999142

Ausstellung „Die verschwiegenen Toten – Todesopfer rechter Gewalt in Leipzig“: http://www.rassismus-toetet-leipzig.org/

Initiative „Pogrom 91“: http://pogrom91.tumblr.com/

Kongress zur Debatte um Erinnerung an Opfer rechter Gewalt „Gedenkkongress 2015“: http://www.gedenkkongress.de/

Alle Hinweise und Informationen können Sie auch in Ruhe auf der Sonderseite zur Ausstellung und auf der Website der Opferberatung ezra abrufen. Klicken Sie dazu bitte auf www.angstraeume.ezra.de oder www.ezra.de.

1 Opferperspektive e.V. (o.J.): Anerkennungsdebatte.
URL: http://www.todesopfer-rechter-gewalt-in-brandenburg.de/debatte.php.

2 Opferperspektive e.V. (o.J.): Moses Mendelssohn Studie.
URL: http://www.todesopfer-rechter-gewalt-in-brandenburg.de/debatte03.php.

3 Moses Mendelssohn Zentrum(2015): Europäischer Menschenrechtskommissar lobt MMZ-Forschungsprojekt.
URL: http://www.mmz-potsdam.de/meldung-lesen/items/europaeischer-menschenrechtskommissar-lobt-mmz-forschungsprojekt-157.html.

4 RBB (2015): Doppelt so viele Todesopfer rechter Gewalt in Brandenburg.
URL: https://www.rbb-online.de/politik/beitrag/2015/06/studie–mehr-tote-durch-rechte-gewalt.html.