Von Gewalt betroffene Personen machen bestimmte Erfahrungen des „Zum-Opfer-Werdens“. Dieser Prozess wird als „Viktimisierung“ bezeichnet. Er besteht aus Interaktionen von Täter_innen, Betroffenen der Gewalt und anderen Akteur_innen und ist durch verschiedene Voraussetzungen und Tatfolgen gekennzeichnet.

Dabei werden drei Stufen unterschieden: Primäre Viktimisierung bezieht sich auf den Zeitpunkt der Tat und wird beeinflusst durch verschiedene Opfer- und Täter_innenfaktoren und Situationsmerkmale. Sekundäre Viktimisierung ist eine Verschärfung der primären und entsteht durch Fehlreaktionen des sozialen Umfelds und öffentlicher Institutionen – vor allen der Polizeikontakt ist in der Regel einer der wichtigsten Faktoren in diesem Prozess. Die dritte Stufe ist die tertiäre Viktimisierung, die zu einer Verfestigung der Opferidentität und damit zu einem veränderten Selbstbild führt. Die verschiedenen Stufen müssen dabei nicht zwangsläufig aufeinanderfolgen.1

Primäre Viktimisierung

Die primäre Viktimisierung, also die erste Stufe einer Viktimisierung, umfasst

die eigentliche Opferwerdung, also die Schädigung einer oder mehrerer Personen durch einen oder mehrere Täter_innen. Ausgelöst und beeinflusst wird diese Phase durch verschiedene Situationsmerkmale [wie der Ort oder die Umstände der Tat], verschiedene Opfereigenschaften [wie das Alter, die physische und psychische Konstitution oder Erfahrungen des Opfers], das Opferverhalten [also das Verhalten der betroffenen Person in der Situation], die Art der Täter_innen-Opfer-Beziehungen und Tätereigenschaften.2

Dabei spielen im Kontext von rechter Gewalt die Beziehung zwischen Täter_innen und Betroffenen eine geringe Rolle, da sich Täter_innen und Betroffene in den meisten Fällen nicht kennen. In der von ezra in Auftrag gegebenen Studie gaben 71 Prozent der befragten Betroffenen an, dass ihnen die Täter_innen unbekannt waren.3

Taten, die im Nahbereich des Opfers geschehen, also bspw. in der Nähe der Wohnung oder Arbeitsstelle, haben oft besonders schwerwiegende Auswirkungen auf das Opfer, da es nur schwer möglich ist, diese Orte zu meiden, und das Risiko eines sich einstellenden alltäglichen Unsicherheitsgefühls erhöht ist.“4

Welche Ausmaße derartige Vorfälle und das anhaltende Agieren von Rechtsextremen im eigenen Nahbereich annehmen können, wird im Abschnitt „Die Alltäglichkeit der Angst – Rechte Gewalt und Einschüchterungsversuche“ ausführlich thematisiert:

Die Anwesenheit von unbeteiligten Dritten kann sich sowohl negativ als auch positiv auf das Opfer auswirken. Unbeteiligte Dritte sind dabei Personen, die nicht unmittelbar Täter_innen oder Opfer einer Gewalttat sind. Die bloße Anwesenheit von potenziellen Zeug_innen kann dazu führen, dass eine Tatsituation gar nicht erst eskaliert, weil die Täter_innen fürchten, erkannt zu werden. […] Im Falle eines bewussten Nichteinschreitens von Dritten können sich die psychischen Folgen für die Betroffenen verschlimmern, da das Schweigen mitunter als Zustimmung für die Gewalttaten aufgefasst wird. Umgekehrt federn einschreitende Zeug_innen die Folgen einer Gewalttat eher ab. Das Einschreiten muss dabei nicht körperlich geschehen, es kann sich auch um die Verständigung der Polizei oder sonstiger Hilfe handeln oder um andere Versuche, die Situation zu beenden.“ 5

Den Ergebnissen der Studie zufolge kann man die

Aspekte des Tathergangs so interpretieren, dass ob eine Person zum Opfer rechter Gewalt wird, häufig eher zufällig ist, weil die Betroffenen meist keinen bestimmten Szenen angehören und die Taten meist in der Öffentlichkeit stattfinden (mit der Einschränkung, dass Menschen die von den Täter_innen als Nichtdeutsche oder als Linke gesehen werden, häufiger betroffen sind). Gleichzeitig handelt es sich aus Sicht der Betroffenen in der Mehrzahl der berichteten Fälle um organisiert wirkende Übergriffe, das heißt die Suche nach (fast beliebigen) Opfern hat System.6

So gaben 48 Prozent der Befragten an, dass die Tat auf sie wie ein organisierter Angriff gewirkt habe.

Sekundäre Viktimisierung

Eine sekundäre Viktimisierung, also eine zum zweiten Mal erlebte Viktimisierung, entsteht durch „Fehlreaktionen des sozialen Nahraums von Betroffenen (Freund_innen, Bekannte, Familienangehörige) und/oder Instanzen der formellen Sozialkontrolle (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte) 7, nachdem die Betroffenen zum Opfer geworden sind. Dabei umfasst der Begriff sowohl den Vorgang der Einwirkung der Akteur_innen als auch die Folgen dieser Einwirkung. Neben den genannten können auch die Täter_innen und deren Angehörige, die Öffentlichkeit, insbesondere die Medien, und die Verteidiger_innen der Täter_innen im Gerichtsverfahren die sekundäre Viktimisierung positiv oder negativ beeinflussen bzw. verhindern oder hervorrufen.8

Entscheidend sind also einerseits die Reaktionen des sozialen Umfelds. Andererseits spielen die Reaktionen von Ermittlungsbehörden eine wichtige Rolle. Besonders wichtig ist vor allem das Verhalten der Polizei sowohl in der Tatsituation als auch im Nachtatsbereich für die Konsequenzen der Opfererfahrung der Betroffenen.

Dabei spielen die Ausstattung der jeweiligen Polizeiinspektionen und die Erfahrungen sowie Empathie der jeweiligen Beamt_innen eine große Rolle: „Durch den Mangel an Informationen [für die Betroffenen] kann die Arbeit der Polizei undurchsichtig erscheinen und das Gefühl der Missachtung oder bloßen Verwaltung der Opferwerdung entstehen“. 9

In der Studie wurden Betroffene rechter Gewalt nach den Erfahrungen im Umgang mit der Polizei gefragt. Zum Verhalten der Polizei in der Tatsituation haben die 32 befragten Personen folgendermaßen geantwortet:

21 Prozent stimmten der Aussage zu:
Vor Ort haben mich die Polizisten behandelt, als sei ich der eigentliche Täter“.

34 Prozent stimmten der Aussage zu:
Ich fühlte mich von der Polizei behandelt wie ein Mensch zweiter Klasse“.

9 Prozent stimmten der Aussage zu:
Die Polizisten zeigten Sympathien für die Täter“.

25 Prozent stimmten der Aussage zu:
Ich fühlte mich von der Polizei in meinen Menschenrechten verletzt“.

28 Prozent stimmten der Aussage zu:
Durch Vorwürfe der Polizisten fühlte ich mich erneut geschädigt“.

Dieses Zustimmungsverhalten zeigt deutlich, dass die Befragten „mehrheitlich partielle Viktimisierungserfahrungen“ 10 gemacht haben. Dabei wird auch klar, dass es unter den Befragten mehr Personen gibt, die „keinerlei Viktimisierungserfahrungen durch Polizist_innen gemacht haben, als Personen, die über umfassende Viktimisierungen berichten“. 11

Zusätzlich zum Verhalten der Polizei am Ort des Geschehens spielt auch das Verhalten der Beamt_innen im Nachgang der Tat eine Rolle bei der Verarbeitung der Opfererfahrung, also beispielsweise bei der Aufnahme der Aussagen der Betroffenen und Zeug_innen. Auch die Weitergabe von Informationen, die den Betroffenen Unterstützung und Hilfe bieten könnten, haben Einfluss darauf, ob und wie die Geschädigten sich mit ihrer Erfahrung ernst genommen fühlen.

In der Untersuchung durch ezra zeigte sich, dass 18 Prozent der Befragten der Aussage zustimmen:Polizisten haben mir vorgeworfen, selber schuld für die Eskalation der Situation gewesen zu sein“. Das bedeutet, dass fast ein Fünftel der befragten Betroffenen annimmt, „von der Polizei mehr oder weniger stark als Verantwortliche für die Eskalation betrachtet worden zu sein“.12

Derartige Erfahrungen können zu einer sekundären Viktimisierung beitragen. Es gibt Möglichkeiten, den Betroffenen zu helfen. ezra habt allerdings die Erfahrung gemacht, dass die „verschiedenen Möglichkeiten des Opferschutzes gegenüber den Betroffenen im Rahmen der Polizeiarbeit häufig nicht oder nur unvollständig kommuniziert“13 werden. Im sogenannten Opferrechtsreformgesetz ist die Pflicht zur Information der Betroffenen durch die Strafverfolgungsbehörden festgeschrieben und in Thüringen kommt die Polizei dieser Pflicht durch die Aushändigung eines entsprechenden Merkblattes auch nach. Doch die entsprechenden Rechte und Möglichkeiten der Betroffenen werden nur selten erläutert.

Die Erfahrung der Opferberatung zeigt, dass nur wenige Betroffene das Merkblatt wirklich nutzen können. Das Wissen zu Abläufen des Ermittlungs- und Strafverfahrens fehlt vielen Betroffenen; der juristische Sprachgebrauch ist ihnen nicht geläufig.14

Deshalb wäre es

z.B. hilfreich, wenn die vernehmenden Polizeibeamt_innen Geschädigte und Zeug_innen frühzeitig auf ihre Möglichkeit hinweisen würden, die Wohnanschrift nicht angeben zu müssen. Diese Möglichkeit wird bei befürchteten Gefährdungen von Zeug_innen im Paragraf 68 Absatz 2 der Strafprozessordnung eingeräumt. Nutzbar ist diese gesetzliche Regelung natürlich nur dann, wenn das Opfer darüber informiert ist. Informationen zu Beratungsstellen für Opfer gibt die Thüringer Polizei nur selten an Betroffene weiter.15

In der Befragung wurde deutlich, dass nur 13 Prozent der Befragten auf psychosoziale Hilfsangebote und auf die Möglichkeit von „Entschädigungsansprüchen und Schadensersatz“ hingewiesen wurden. Nur 8 Prozent erhielten den Hinweis auf die Möglichkeit von „Prozesskostenhilfe, je 15 Prozent wurden auf die Möglichkeit den Stand der Ermittlungen abzufragen und darauf dass Sie sich als Nebenkläger der öffentlichen Klage anschließen können“ hingewiesen.

Den Hinweis, dass Betroffene „nicht ihre private Adresse für Akten angeben brauchen“, erhielten nur 10 Prozent und lediglich 11 Prozent wurde „unmittelbar nach der Vernehmung am Tatort bzw. Polizeiwache ein sicherer Nachhauseweg angeboten16

Insgesamt bestätigt sich damit, dass die verschiedenen Möglichkeiten des Opferschutzes seitens der Polizeibeamt_innen nur äußerst selten und sehr unvollständig kommuniziert werden bzw. die Vermittlung von Informationen durch das alleinige Überreichen eines Flugblattes die Betroffenen nicht erreicht.17

Je nach dem weiterem Verlauf der Ermittlungen kann in einem anschließenden Gerichtsverfahren ebenfalls eine sekundäre Viktimisierung entstehen bzw. die Bewältigung der Erfahrung erleichtert werden.

Folgen für das Vertrauen in Institutionen

Wenn solche Erfahrungen nicht verarbeitet werden, kann dies auch negative Folgen für das Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen wie Polizei, Gerichte oder die Bundesregierung nach sich ziehen. In der ezra-Studie zeigte sich, dass „fast die Hälfte der Befragten den Gerichten traut, aber nur ein Fünftel der Bundesregierung und etwas weniger als ein Fünftel der Polizei“. 18 Im Vergleich zu dem in der Durchschnittsbevölkerung abgefragten Vertrauen in diese Institutionen im „Thüringen Monitor“ werden große Unterschiede deutlich.

Tertiäre Viktimisierung

Die tertiäre Viktimisierung, also die zum dritten Mal erlebte Viktimisierung, „beschreibt das Ergebnis von Erlebnissen und Zuschreibungs- bzw. Etikettierungsprozessen aufgrund vorangegangener primärer und/oder sekundärer Viktimisierung“ 19, die bei Betroffenen dazu führen können, dass sie sich vor allem als Opfer definieren. Die gemachten Erfahrungen und daran anschließenden Einstellungen lassen nur noch eine enge Sichtweise des Erlebten und der eigenen Identität zu. Dies kann zur Folge haben, dass das Vertrauen der Betroffenen in das eigene Handeln, aber auch das Vertrauen gegenüber anderen Menschen und Organisationen verloren geht. 20 In der Befragung stimmten 86 Prozent der Aussage zu: „Selbst wenn ich sehr vorsichtig bin, ich kann nicht verhindern, wieder zum Opfer von Gewalt zu werden“.

Darüber hinaus gibt es weitere Formen der Viktimisierung und eine Vielfalt an komplexen Prozessen und Auswirkungen. Dabei ist insbesondere die strukturelle und kollektive Viktimisierung relevant für einen gesellschaftlichen Umgang mit rechter Gewalt und Betroffenen ebendieser. Weitere und ausführliche Informationen dazu finden sich in der in diesem Beitrag zitierten ezra-Studie „Die haben uns nicht ernst genommen“, die auf der Webseite von ezra kostenlos zur Verfügung steht.

Alle Hinweise und Informationen können Sie auch in Ruhe auf der Sonderseite zur Ausstellung und auf der Website der Opferberatung ezra abrufen. Klicken Sie dazu bitte auf www.angstraeume.ezra.de oder www.ezra.de.

1 Leicht verändert nach: Quent, Matthias; Geschke, Daniel; Peinelt, Eric (2014): Die haben uns nicht ernst genommen. Eine Studie zu Erfahrungen von Betroffenen rechter Gewalt mit der Polizei, hrsg. von ezra, S. 18.
URL: http://www.ezra.de/fileadmin/projekte/Opferberatung/download/EzraStudie_klein.pdf.

2 Ebd.

3 Ebd. S. 24.

4 Ebd.

5 Ebd. S. 18f.

6 Ebd. S. 22.

7 Ebd. S. 33f.

8 Ebd. S. 33.

9 Ebd.

10 Ebd. S. 35.

11 Ebd.

12 Ebd.

13 Ebd. S. 39.

14 Ebd. S. 40.

15 Ebd.

16 Ebd. S. 39.

17 Ebd. S. 40.

18 Ebd. S. 46.

19 Ebd. S. 36.

20 Ebd.