Wir leben in einer vielfältigen Gesellschaft, die trotz aller Vielfalt bestimmte Vorstellungen hat von „Normalität, von Natürlichkeit und von dem, was „richtig“ und was „falsch“ ist. Das führt dazu, dass insbesondere Minderheiten durch ihre vermeintliche Abweichung von der „Norm“ skeptisch oder gar abwertend betrachtet werden.

Antiziganismus ist ein Begriff, der in der Mehrheitsgesellschaft noch wenig bekannt ist. Damit einher geht ein weitgehendes Desinteresse an dem Phänomen, das mit dem Begriff bezeichnet wird: Die Stigmatisierung, Diskriminierung und Verfolgung von Menschen als „Zigeuner ist kein Thema, das für Schlagzeilen sorgt; die Beschäftigung in den Bereichen Bildung, Politik und Wissenschaft ist immer noch randständig. Dabei ist der Hass auf Menschen, die als „Zigeuner“ stigmatisiert werden, weitverbreitet und tief ins kulturelle Gedächtnis1 der europäischen Gesellschaften eingeschrieben.

Das Wort „Zigeuner stellt eine diskriminierende Fremdbezeichnung dar, die von den meisten Angehörigen der betroffenen Gruppen als verletzend und beleidigend empfunden wird. Die Mehrzahl der Menschen, die damit gemeint ist, zählt sich selbst zur Gruppe der Roma oder der Sinti. Jedoch werden auch andere Gruppen, wie die Irish Travellers, die niederländischen woonwagenbewoners oder die Jenischen, die vorwiegend in Süddeutschland und der Schweiz leben, als „Zigeuner“ stigmatisiert. Antiziganist_innen sind solche Unterschiede zumeist egal.2

Sie halten alle diese Gruppen pauschal für „Zigeuner3, denn für sie sind alle „Zigeuner“ gleich und unveränderlich. Der Antiziganismus speist sich aus kulturell vermittelten Bildern, Stereotypen und Sinngehalten, aus „Wissen“ also, das Jahrhunderte alt ist und in immer neuen Variationen tradiert wird. Mit den realen Menschen, die von Antiziganismus betroffen sind, hat diese Vorurteilsstruktur kaum etwas gemein. 4 Sie führt gewissermaßen ein Eigenleben, woraus sich in den Jahrhunderten vielfältige Stereotype gebildet haben. Diese reichen vom „ewigen Wandern“, kriminellen Veranlagungen, Arbeitsscheue oder Faulheit über Unordnung und Unzuverlässigkeit bis hin zu Feigheit oder Hinterlist. Die Stereotype und Sinngehalte des Antiziganismus haben aber mit Roma und Sinti nichts zu tun haben, sondern existieren vielmehr in der Vorstellungswelt der Mehrheitsbevölkerung und stehen als Gegenbild für sowohl zu verachtende als auch zu wünschende Normen.

Fleiß und Arbeitsdisziplin gelten als neue Normen im ökonomischen Bereich, feste nationale Identitäten werden zu zentralen Merkmalen der aufstrebenden bürgerlichen Schichten, die Vorherrschaft des Mannes in den Geschlechterbeziehungen verstärkt sich, das Leben muss rational und effizient geplant werden und hieraus speist sich der Antiziganismus. Denn die beschriebenen Stereotype widersprechen diesen Normen deutlich. Gerade daher ist es notwendig, von Antiziganismus zu sprechen und nicht von „Rassismus gegen Sinti und Roma“.5

Am Wort „Zigeuner“ zeigt sich dies nochmals deutlich:

So werden Sinti und Roma zwar schon seit langer Zeit genannt – aber das war auch immer schon abwertend und ausgrenzend gemeint. Es sagt: ‚die‘ sind nicht wie ‚wir‘. Auch ‚Gauner‘ schwingt darin mit. Über diese Minderheit gibt es auch Vorstellungen von leidenschaftlichen, musikalischen, exotischen Gestalten. Solche Fantasien sind weniger negativ, aber dennoch ein Problem. Denn sie sprechen den so beschriebenen Menschen ab, einfach so zu sein wie alle anderen: unterschiedlich und individuell.6

So stehen den negativ besetzten Stereotypen auch positive gegenüber. Die Verklärung des „lustigen Zigeunerlebens ist folglich die eine Seite desselben vorverurteilendes Denkmusters, das auf der anderen Seite innere Vorbehalte, offene Ablehnung, Ausgrenzung und Vertreibung bis hin zu Angriffen, Tötung und massenhafter Vernichtung umfasst.7

Die Gruppe der Sinti und Roma ist die größte Minderheit in Europa und sie erleidet in allen europäischen Ländern massive Diskriminierung.

Die lange Geschichte der Benachteiligung von Sinti und Roma hat dazu geführt, dass viele Angehörige der Minderheit sich in schwierigen sozialen Situationen befinden und oft Probleme haben, Zugang zu Bildung oder Unterstützung zu finden. Die Nationalsozialisten haben Sinti und Roma europaweit verfolgt, entrechtet und ermordet. Diese Verfolgung wirkt nach; sie wird bis heute größtenteils von der Gesellschaft nicht anerkannt. Die Nicht-Anerkennung des Leidens und des Völkermords an den Sinti und Roma ist wiederum eine Form von Antiziganismus. In Europa gibt es eine Tradition des Misstrauens gegenüber Menschen, die keinen festen Wohnsitz haben. Und es gibt eine Tradition, die Sinti und Roma als nicht sesshaft darstellt. Die Verknüpfung dieser beiden Traditionen führte und führt immer noch zu einem Misstrauen gegenüber Sinti und Roma. 8

Wie bei anderen Formen von Menschenverachtung besteht auch im Fall des Antiziganismus für die Betroffenen nicht nur das Risiko, abgelehnt oder diskriminiert zu werden, sondern es besteht auch das Risiko, Opfer rechter Gewalttaten zu werden. So kam es in den letzten fünf Jahren bundesweit wiederholt zu Brandanschlägen auf Wohnwagen von Sinti und Roma. In Waltershausen wurden im Februar 2014 Roma-Schulkinder auf dem Weg in ihre Gemeinschaftsunterkunft von einem Anwohner belästigt, bedroht und angegriffen. 9 Auch Schändungen der wenigen Mahnmale für die Opfer der NS-Verfolgung und Ermordung von rund 500.000 Sinti und Roma gehören zur gewaltvollen Bedrohung dieser Minderheit.

Dazu kommt, dass Ermittlungsbehörden antiziganistische Gewalt nicht als solche wahrnehmen und es somit nicht möglich ist, diese Form der Ausgrenzung zu erfassen.

In den jeweiligen Jahresstatistiken der Innenministerien der Länder und in den Verfassungsschutzberichten wird ausschließlich zwischen ‚fremdenfeindlicher‘ und ‚antisemitischer‘ Motivation unterschieden. Antiziganistisch motivierte Gewalt wird auf diese Weise in den Statistiken der Behörden unsichtbar gemacht. Sie verschwindet in der Kategorie der so genannten ‚fremdenfeindlich‘ motivierten Gewalttaten. Diese Erfassungsweise bedarf alleine schon deswegen dringend einer Reform, weil die Terminologie ‚fremdenfeindlich‘ die Betroffenen rassistischer und antiziganistischer Gewalt zu ‚Fremden‘ macht. […] Die geforderte Erfassung kann aber nur einer von vielen wichtigen Schritten sein, antiziganistischer Diskriminierung und Gewalt zu begegnen.10

Ähnlich wie beim Antisemitismus speist sich der Antiziganismus aus einer „pathischen“ Projektion, wobei unerwünschte Regungen, die von den gesellschaftlichen Normen und Werten abweichen, auf andere Gruppen oder Menschen übertragen, also projiziert werden, und letztlich in Gewalt umschlagen können. So ist es der kontinuierlichen Arbeit von Selbstorganisationen wie dem „Zentralrat Deutscher Sinti und Roma“, „Amaro Foro“ oder „Roma Thüringen zu verdanken, dass Propagandadelikte, Bedrohungen und Gewalttaten zunehmend öffentlich werden.

1 Vgl. Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen.

2 Vgl. End, Markus (2011): Bilder und Sinnstruktur des Antiziganismus, in: APUZ 22-23/2011.

3 Vgl. Wippermann, Wolfgang (1997): „Wie die Zigeuner“. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, S. 17, Fn. 22.

4 Diese zentrale Einsicht bezüglich des Antisemitismus wurde Mitte der 1940er Jahre ungefähr zeitgleich von den Autoren der Kritischen Theorie (Adorno, Theodor W. /Horkheimer, Max (1989): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, S. 180) und vom französischen Philosophen Jean-Paul Sartre formuliert: „(E)xistierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden.“ (Sartre, Jean-Paul (1994): Überlegungen zur Judenfrage, in: ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Politische Schriften Bd. 2, Reinbek, S. 12).

5 Vgl. beispielsweise Schenk, Michael (1994): Rassismus gegen Sinti und Roma: zur Kontinuität der Zigeunerverfolgung innerhalb der deutschen Gesellschaft von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart oder den Untertitel von Änneke Winckel (2002): „Antiziganismus: Rassismus gegen Roma und Sinti im vereinigten Deutschland.

6 Netz-gegen-Nazis (o.J.): Was ist Antiziganismus?
URL: www.netz-gegen-nazis.de/artikel/was-ist-antiziganismus-7640.

7 Opferberatung Rheinland (o.J.): Glossar.
URL: https://www.opferberatung-rheinland.de/glossar/?qlChar=A.

8 Netz-gegen-Nazis (o.J.): Was ist Antiziganismus?
URL: www.netz-gegen-nazis.de/artikel/was-ist-antiziganismus-7640.

9 Netz-gegen-Nazis (2014): Chronik zu Angriffen und Hetze gegen Flüchtlinge 2014.
URL:http://www.netz-gegen-nazis.de/artikel/chronik-zu-angriffen-und-hetze-gegen-fl%C3%BCchtlinge-2014-9322.

10 Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt (2015): Informationen der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt: Antiziganismus, Nr. 48.
URL: http://www.mobile-opferberatung.de/doc/news/informationen48_antiziganismus.pdf .